Ein radikal neuer Blick auf die Begleiterinnen der Milchstraße

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Die Zwerggalaxien der Milchstraße.

Bild: ESA/Gaia/DPAC
21. November 2023 //

Üblicherweise wird angenommen, dass Zwerggalaxien unsere Galaxie für lange Zeit als Satelliten umkreisen. Eine neue Studie zeigt nun, dass viele dieser Zwerggalaxien bereits kurz nach dem Eindringen in den galaktischen Halo zerstört werden könnten. Dank des neuesten Katalogs des ESA-Satelliten Gaia konnte ein internationales Team nachweisen, dass Zwerggalaxien aus dem Gleichgewicht geraten sein könnten. Die Studie wirft wichtige Fragen zum kosmologischen Standardmodell auf, insbesondere zum Vorhandensein Dunkler Materie in unserer unmittelbaren Umgebung.

Eine Besonderheit dieser Studie liegt in der Rolle der Dunklen Materie. Erstens verhindert das fehlende Gleichgewicht eine Schätzung der dynamischen Masse der Zwerggalaxien der Milchstraße und damit ihres Anteils an Dunkler Materie. Zweitens: Während im vorherigen Szenario die Dunkle Materie die vermeintliche Stabilität von Zwerggalaxien sicherte, wird sie bei Objekten, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, eher hinderlich. Enthielte nämlich der Zwerg bereits viel Dunkle Materie, hätte diese seine anfängliche rotierende Sternscheibe stabilisiert und seine Umwandlung in eine Galaxie mit zufälligen Sternbewegungen, wie sie beobachtet werden, verhindert.

Die beschriebene erst kürzliche Ankunft von Zwerggalaxien und ihre Umwandlung im Halo erklären viele beobachtete Eigenschaften dieser Objekte, insbesondere, warum sie Sterne in großer Entfernung von ihrem Zentrum besitzen. Ihre Eigenschaften scheinen sich auch ohne Dunkle Materie erklären zu lassen – im Gegensatz zur bisherigen Auffassung, dass Zwerggalaxien die am stärksten von Dunkler Materie dominierten Objekte sind. Nun stellen sich viele Fragen, wie zum Beispiel: Wo sind die vielen von Dunkler Materie dominierten Zwerggalaxien, die das kosmologische Standardmodell um die Milchstraße erwartet? Wie können wir auf den Gehalt an Dunkler Materie in einer Zwerggalaxie schließen, wenn kein Gleichgewicht angenommen werden kann? Welche anderen Beobachtungen könnten zwischen den vorgeschlagenen Zwerggalaxien außerhalb des Gleichgewichts und dem klassischen Bild mit von Dunkler Materie dominierten Zwergen unterscheiden?

Video aus einer Simulation der Umwandlung einer gasreichen und rotationsdominierten Galaxie in eine sphärische Zwerggalaxie nach ihrem ersten Eintritt in den Milchstraßenhalo. Hier wird ein Analogon der Sculptor-Zwerggalaxie gezeigt, wobei das Gas in blau und die Sterne in orange dargestellt sind. Das Gas wird abgestreift, wenn die Zwerggalaxie der Milchstraße am nächsten ist (Entfernung in der oberen rechten Ecke), was zu einer schnellen Ausdehnung der Sterne führt. Das Modell sagt daher eine große Hülle aus fernen Sternen um den Überrest der Zwerggalaxie voraus. Das Ausblenden auf die Tiefe der optischen Beobachtungen zeigt jedoch, dass diese Hülle aus Sternen zu schwach ist, um leicht entdeckt zu werden.
Credit: Jianling Wang, François Hammer

Man geht seit langem davon aus, dass die Zwerggalaxien rund um die Milchstraße uralte Satelliten sind, die unsere Galaxie seit fast 10 Milliarden Jahren umkreisen. Dazu müssten sie riesige Mengen an Dunkler Materie enthalten, um sie vor den enormen Gezeiteneffekten zu schützen, die durch die Anziehungskraft unserer Galaxie verursacht werden. Es wurde angenommen, dass Dunkle Materie die Ursache für die großen Geschwindigkeitsunterschiede zwischen den Sternen in diesen Zwerggalaxien ist.

Die neuesten Gaia-Daten haben nun ein völlig anderes Bild der Eigenschaften von Zwerggalaxien ergeben. Astronominnen und Astronomen des Pariser Observatoriums PSL, des Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und des Leibniz-Instituts für Astrophysik Potsdam (AIP) waren in der Lage, die Geschichte der Milchstraße zu datieren, und zwar dank der Beziehung zwischen der Bahnenergie eines Objekts und seiner Eintrittszeit in den Halo, dem Zeitpunkt, zu dem sie erstmals vom Gravitationsfeld der Milchstraße erfasst wurden: Objekte, die zu früheren Zeiten in die Milchstraße eindrangen, als diese noch weniger massereich war, haben eine niedrigere Energie als solche, die erst kürzlich eintrafen. Die Bahnenergie der meisten Zwerggalaxien ist überraschenderweise deutlich größer als jene der Sagittarius-Zwerggalaxie, die vor 5 bis 6 Milliarden Jahren in den Halo eintrat. Dies deutet darauf hin, dass die meisten Zwerggalaxien erst vor viel kürzerer Zeit, nämlich vor weniger als drei Milliarden Jahren, in den Halo eingetreten sind.

Eine solche jüngste Ankunft bedeutet, dass die nahen Zwerggalaxien von außerhalb des Halos stammen, wo fast alle Zwerggalaxien riesige Reservoirs an neutralem Gas enthalten. Diese gasreichen Galaxien verloren ihr Gas, als sie mit dem heißen Gas des galaktischen Halos zusammenstießen. Die Gewalt der Schocks und Turbulenzen in diesem Prozess veränderte diese Zwerggalaxien völlig. Während die zuvor gasreichen Zwerggalaxien durch die Rotation von Gas und Sternen bestimmt wurden, wird ihre Schwerkraft bei der Umwandlung in gasfreie Systeme durch die zufälligen Bewegungen der verbleibenden Sterne ausgeglichen. Der Prozess, mit dem Zwerggalaxien ihr Gas verlieren, ist so heftig, dass er sie aus dem Gleichgewicht bringt. Das bedeutet, dass die Geschwindigkeit, mit der sich ihre Sterne bewegen, nicht mehr im Gleichgewicht mit ihrer Gravitationsbeschleunigung ist. Die kombinierten Auswirkungen von Gasverlust und Gravitationsschocks durch den Sturz in die Galaxie erklären die große Streuung der beobachteten Geschwindigkeiten der Sterne innerhalb des Überrests der Zwerggalaxie gut.

Weitere Informationen

PSL-Pressemitteilung

https://www.observatoiredeparis.psl.eu/a-radically-new-view-of-dwarf.html

Originalveröffentlichung

Francois Hammer, Jianling Wang, Gary A Mamon, Marcel S Pawlowski, Yanbin Yang, Yongjun Jiao, Hefan Li, Piercarlo Bonifacio, Elisabetta Caffau, Haifeng Wang, The accretion history of the Milky Way – II. Internal kinematics of globular clusters and of dwarf galaxies, Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, Volume 527, Issue 2, January 2024, Pages 2718–2733.

DOI: https://doi.org/10.1093/mnras/stad2922

https://arxiv.org/abs/2311.05677

Das Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP) widmet sich astrophysikalischen Fragen, die von der Untersuchung unserer Sonne bis zur Entwicklung des Kosmos reichen. Forschungsschwerpunkte sind dabei kosmische Magnetfelder und extragalaktische Astrophysik sowie die Entwicklung von Forschungstechnologien in den Bereichen Spektroskopie, robotische Teleskope und E-Science. Seinen Forschungsauftrag führt das AIP im Rahmen zahlreicher nationaler, europäischer und internationaler Kooperationen aus. Das Institut ist Nachfolger der 1700 gegründeten Berliner Sternwarte und des 1874 gegründeten Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam, das sich als erstes Institut weltweit ausdrücklich der Astrophysik widmete. Seit 1992 ist das AIP Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft.
Letzte Aktualisierung: 21. November 2023