Kosmische Stoßwellen: Den Geheimnissen von Radiorelikten auf der Spur

Zwei nebeneinander angeordnete farbige Darstellungen eines Galaxienhaufens, links: Gasdichte, im Zentrum heller als außen, rechts: freigesetzte Energie mit deutlich sichtbaren bogenförmigen Strukturen (Schockwellen)

Bogenförmige Stoßwellen breiten sich während der Verschmelzung von Galaxienhaufen nach außen aus und wandeln dabei eine enorme Menge an Energie in Wärme um. Das linke Bild zeigt die Gasdichte nach einer solchen Verschmelzung, rechts die freigesetzte Energie mit deutlich sichtbaren Stoßwellen.

Bild: AIP/J. Whittingham
14. November 2025 //

Wenn Galaxienhaufen miteinander kollidieren, entstehen gewaltige Stoßwellen, die Elektronen auf hohe Energien beschleunigen und sogenannte „Radiorelikte“ erzeugen – riesige Bereiche, die Radiostrahlung aussenden. Ein Forschungsteam unter der Leitung des Leibniz-Instituts für Astrophysik Potsdam (AIP) hat die Entwicklung dieser Stoßwellen in kosmologischen Computersimulationen verfolgt und anschließend die wichtigsten Details in deutlich höher aufgelösten Simulationen nachgebildet. Durch das Modellieren der Radiostrahlung – von der Stoßwelle bis zum beobachtbaren Radiosignal – gelang es dem Team, mehrere langjährige Rätsel zu lösen, die bislang das Verständnis der Radiorelikte erschwerten.

Galaxienhaufen sind die größten, durch ihre eigene Schwerkraft gebundenen Strukturen im Universum. Jeder von ihnen enthält viele Hunderte bis zu Tausende von Galaxien. Wenn zwei dieser Giganten zusammenstoßen, senden sie mächtige Stoßwellen aus und setzen Energien frei, die seit dem Urknall nicht mehr erreicht wurden. Die Stoßwellen fegen über Elektronen hinweg, beschleunigen sie und bringen sie dazu, Radiostrahlung auszusenden, während sie sich spiralförmig um Magnetfeldlinien bewegen. So entsteht ein „Radiorelikt“ – ein riesiger Bogen aus Radiostrahlung, der sich über mehr als sechs Millionen Lichtjahre erstrecken kann, also über eine Distanz, die etwa 60 bis 70 hintereinander gereihten Milchstraßen entspricht.

In den letzten Jahren haben sich jedoch immer mehr Fragen zu Radiorelikten aufgetan. Zum einen erscheinen die aus Beobachtungen abgeleiteten Magnetfeldstärken unerwartet hoch. Zum anderen scheint die Stärke der Stoßwellen davon abzuhängen, ob sie im Radio- oder Röntgenbereich gemessen wird. Und besonders rätselhaft: Röntgendaten deuten darauf hin, dass viele dieser Stoßwellen eigentlich zu schwach sind, um Elektronen ausreichend zu beschleunigen – was der Existenz der Radiorelikte an sich widerspricht.

Sechs farbige Bilder aus wissenschaftlichen Simulationen zeigen Energie bei Stoßwellen, Gasdichte, Radiointensität und Magnetfeldstärke in Galaxienhaufen, mit Vergrößerungen und Maßangaben.

Bogenförmige Stoßwellen breiten sich während der Verschmelzung von Galaxienhaufen nach außen aus und wandeln dabei eine enorme Menge an Energie in Wärme um (oben links). Wenn diese Stoßwellen am Rand des Haufens mit anderen Stoßwellenkollidieren, verdichten sie das umgebende Gas und bilden eine dichte Gasschicht (hier im Querschnitt im vergrößerten Ausschnitt oben rechts dargestellt). Indem Forschende dieses Phänomen in noch höher aufgelösten Simulationen nachbildeten (unten rechts), die Entwicklung der Magnetfelder nachbildeten (unten Mitte) und die entstehende Radioemission modellierten (unten links), konnten sie entscheidende Einblicke in die Entstehung von Radiorelikten gewinnen.

Bild: AIP/J. Whittingham

Dem AIP-Team ist es nun gelungen, diese Widersprüche mit einem innovativen, mehrskaligen Ansatz zu lösen. „Der Schlüssel zu unserem Erfolg war es, das Problem auf verschiedenen Größenskalen zu betrachten“, erklärt Dr. Joseph Whittingham, Postdoktorand am AIP und Erstautor der Studie. „Zunächst haben wir in kosmologischen Simulationen verfolgt, wie Stoßwellen entstehen, und das Ergebnis anschließend in einer idealisierten Umgebung mit deutlich höherer Auflösung reproduziert.“ Im letzten Schritt berechneten die Forschenden die Entwicklung der beschleunigten Elektronen und die daraus entstehende Radioemission direkt aus den physikalischen Grundprinzipien. Damit gelingt es ihrem Modell erstmals, die Physik auf der Skala ganzer Galaxienhaufen mit Prozessen zu verbinden, die auf der winzigen Bahn eines einzelnen Elektrons stattfinden – Skalen, die sich um den Faktor einer Billion unterscheiden.

Die Forschenden fanden heraus, dass Stoßwellen am Rand eines Galaxienhaufens auf weitere Stoßwellen treffen, die durch einströmendes, kaltes Gas entstehen. Dieser Prozess verdichtet das umliegende Material und bildet eine dichte Gasschicht, die sich nach außen bewegt und dort auf weitere Gasklumpen stößt. „Der gesamte Mechanismus erzeugt Turbulenzen, verformt und verstärkt das Magnetfeld bis zu den beobachteten Stärken – und löst damit das erste Rätsel“, erläutert Koautor Prof. Christoph Pfrommer. Außerdem verstärkt sich ein Teil der Stoßfront, wenn sie auf solche Gasklumpen trifft, was die Radioemission lokal erhöht. Die Röntgenstrahlung hingegen spiegelt weiterhin die durchschnittliche, insgesamt schwächere Stärke der Stoßwelle wider. Damit erklärt sich, warum die Daten aus beiden Wellenlängenbereichen oft nicht übereinstimmen – und das zweite Rätsel ist gelöst. Schließlich zeigt sich, dass der größte Teil eines Radiorelikts durch die stärksten Bereiche der Stoßfront erzeugt wird. Die niedrigeren Durchschnittswerte aus Röntgenmessungen sind daher kein Widerspruch zur Theorie der Elektronenbeschleunigung an Stoßwellen.

„Dieser Erfolg motiviert uns, unsere Untersuchungen fortzusetzen und die verbleibenden offenen Fragen rund um Radiorelikte zu klären“, schließt Joseph Whittingham.

Das Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP) widmet sich astrophysikalischen Fragen, die von der Untersuchung unserer Sonne bis zur Entwicklung des Kosmos reichen. Die Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der Sterne, Sonne und Exoplaneten sowie der extragalaktischen Astrophysik. Einen wesentlichen Anteil bildet die Entwicklung von Forschungstechnologien in den Bereichen Spektroskopie, robotische Teleskope und E-Science. Seinen Forschungsauftrag führt das AIP im Rahmen zahlreicher nationaler, europäischer und internationaler Kooperationen aus. Das Institut ist Nachfolger der 1700 gegründeten Berliner Sternwarte und des 1874 gegründeten Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam, das sich als erstes Institut weltweit ausdrücklich der Astrophysik widmete. Seit 1992 ist das AIP Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft.
Letzte Aktualisierung: 14. November 2025